Gemeinsam Fortschritt erreichen – Eindrücke von der NAKSE 2025 in Berlin-Schönefeld

Morbus Wilson auf dem Podium (v.l.n.r.): Moderator Jürgen Zurheide, Karsten Funke-Steinberg, Andreas Funke-Reuter und Paulina Kremser. Fotografin: Anna Spindelndreier, ACHSE e.V.

Eine Konferenz, die verbindet

Am 18. und 19. September 2025 fand in Schönefeld bei Berlin die Nationale Konferenz zu Seltenen Erkrankungen (NAKSE) statt. Organisiert wurde die Tagung von dem ACHSE e.V. – die Allianz Chronischer und Seltener Erkrankungen – und den Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE). Bereits beim Betreten des Tagungsortes war spürbar: Dies ist keine reine Fachveranstaltung, sondern ein Raum, der Betroffene, Ärztinnen und Ärzte, Forschende, Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Gesundheitswesen gleichermaßen zusammenführt.

Die Formate waren vielfältig: Fachvorträge, Podiumsdiskussionen, eine Poster-Session sowie gemeinsame Mahlzeiten und Pausen boten Gelegenheit zum Austausch. Besonders wertvoll war die Vielfalt der Patientenerfahrungen, die einen roten Faden durch die gesamte Konferenz bildeten.

Unter dem Claim „Gemeinsam Fortschritt erreichen“ präsentierte sich die NAKSE als inklusive Veranstaltung: Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher begleiteten alle Beiträge, die Räumlichkeiten waren barrierefrei, und für Online-Teilnehmende gab es einen parallelen Live-Stream. Alles wirkte sehr professionell organisiert – mein persönlicher Eindruck: Die Betroffenen waren die heimlichen Stars der Konferenz.

Highlights des ersten Tages

Den Auftakt bildete ein Grußwort von Bundesgesundheitsministerin Nina Waren, die per Videobotschaft die Bedeutung der Seltenen Erkrankungen hervorhob.

Im Anschluss führte Moderator Jürgen Zurheide durch eine bewegende Podiumsdiskussion zum Thema Morbus Wilson (s. Headerfoto: Morbus Wilson auf dem Podium (v.l.n.r.): Moderator Jürgen Zurheide, Karsten Funke-Steinberg, Andreas Funke-Reuter und Paulina Kremser. Fotografin: Anna Spindelndreier, ACHSE e.V.).

Besonders berührend war, dass gleich mehrere Mitglieder unseres Vereins auf der Bühne saßen: Unsere Vorstandsmitglieder Paulina Kremser (Beisitzerin), unser Schriftführer Andreas Funke-Reuter und sein Bruder Karsten Funke-Steinberg, der den Angehörigen einer Seltenen Erkrankung repräsentierte.

Andreas Funke-Reuter – selbst vom Morbus Wilson betroffen – und sein Bruder erzählten, wie schwer er mit den Symptomen der Erkrankung zu kämpfen hatte, wie die Diagnose lange Zeit auf sich warten ließ und es ihm zunehmend schlechter ging. Am Ende war es eine entscheidende Fahrt des Bruders zu einem Wilson-Fachexperten nach Düsseldorf, die den Durchbruch brachte: Die Diagnose wurde gestellt, und die eingeleitete Therapie führte schließlich zu einer deutlichen Besserung der Symptome.

Auch Paulina Kremser schilderte ihre Wilson-Story: Ihre Beschwerden entwickelten sich schleichend. Mit 12 Jahren – damals Schülerin der 6. Klasse – fielen bei einem Kinderarzt erhöhte Leberwerte auf. Nach Überweisung an ein Uniklinikum folgte die Wilson-Diagnose innerhalb von nur zwei Wochen. Diese Erfahrung prägte sie so stark, dass sie sich später entschloss, selbst in der Medizin tätig zu werden. Heute ist sie Notfallsanitäterin und studiert im 9. Semester Medizin.

Paulina Kremser und Andreas Funke-Reuter, Fotografin: Anna Spindelndreier, ACHSE e.V.

Durch ihre Schilderungen wurde das Leben mit einer Seltenen Erkrankung am Beispiel des Morbus Wilson für die gesamte Zuhörerschaft greifbar und verständlich – ein kraftvoller Einstieg in die Konferenz. Die gesamte Podiumsdiskussion ist in unserem Mitgliederbereich zu finden.

Ein weiterer Höhepunkt war die Diskussion mit der Schirmherrin der ACHSE e.V., Eva Luise Köhler. In ihren Worten spiegelte sich ihre langjährige Verbundenheit mit dem Thema wider. Sie erinnerte daran, dass die ACHSE vor 20 Jahren mit einem einfachen „Sorgentelefon“ begann und heute ein starkes Netzwerk darstellt. Doch es bleiben Herausforderungen:

  • Versorgung sichern – etwa durch stabile Finanzierung der ZSE und mehr Wissen bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten.
  • Forschung voranbringen – neue medizinische Errungenschaften müssen auch Menschen mit Seltenen Erkrankungen zugutekommen.

Sie betonte zudem die Bedeutung der personalisierten Medizin: „Am Ende ist jeder Mensch in seiner Gesundheit selten.“ Ihr Appell: Patienten, Forschende, Politik und auch die Pharmaindustrie müssen gemeinsam handeln – und dabei dürfen die Menschen ohne Diagnose nicht vergessen werden.

Emotionaler Höhepunkt des Tages war der Vortrag einer jungen Patientin, die weltweit die erste war, die mithilfe einer CAR-T-Zelltherapie geheilt wurde. Nach Jahren schwerer Krankheit, aussichtslosen Therapieversuchen und der Diagnose „austherapiert“ entschied sie sich für eine experimentelle Behandlung, die damals nur im Tiermodell erprobt war. Vier Jahre kämpfte sie gegen ihre Erkrankung – und konnte sie am Ende überwinden. Ihre Geschichte berührte den gesamten Saal und machte Mut, dass Forschung Leben verändern kann.

Zweiter Tag – Blick auf Forschung und Versorgung

Der zweite Konferenztag stand im Zeichen der Arzneimittelentwicklung. Besonders spannend war der Vortrag von Prof. Dr. Harald Schmidt (Universität Maastricht) über die Chancen des Drug Repurposing, also die Weiterentwicklung zugelassener Medikamente zur Behandlung anderer Erkrankungen.

Er erklärte, dass ein bereits zugelassener Wirkstoff im Schnitt an 32 weitere Proteine bindet, die nichts mit seinem ursprünglichen Wirkmechanismus zu tun haben. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten: bekannte Medikamente könnten in neuen Kombinationen eingesetzt werden, wobei der Vorteil ist, dass Nebenwirkungen bereits bekannt sind. Auf diese Weise ließe sich die sonst 12- bis 15-jährige Entwicklung eines neuen Wirkstoffs erheblich verkürzen.

Besonders bemerkenswert: Es wird geschätzt, dass es nur etwa 2000 verschiedene Bindungstaschen an Proteinen gibt. Damit ist auch das Potenzial an möglichen neuen Wirkstoffen auf rund 2000 begrenzt – ein Hinweis darauf, dass intelligente Nutzung bereits bekannter Medikamente der Schlüssel sein könnte.

Doch Schmidt ging noch weiter: Krankheiten müssten im Gesamtzusammenhang des Körpers betrachtet werden. Oft greifen mehrere Mechanismen ineinander, und mehrere Organe sind betroffen. Statt wie bisher üblich nur eine Erkrankung oder ein Organ in den Blick zu nehmen, müsse die Medizin lernen, komplexe Krankheitsmechanismen auf molekularer Ebene in den Zellen zu verstehen.

Ein innovativer Ansatz ist, die Zelle in zehn Module zu unterteilen und deren Protein-Interaktionen systematisch in Datenbanken zu erfassen. So ließen sich Krankheiten und ihre Varianten völlig neu verstehen. Auf dieser Basis könnten maßgeschneiderte Medikamentencocktails entwickelt werden – mit niedrigeren Dosierungen, weniger Nebenwirkungen und einer gezielteren Wirkung. Gerade bei Erkrankungen, an denen mehrere Proteine beteiligt sind, sei ein Kombinationsansatz effektiver als ein einzelner Wirkstoff.

Schmidt bezeichnete dies als Paradigmenwechsel in der Medizin. Hierfür seien Disziplinen wie Bioinformatik und Künstliche Intelligenz unverzichtbar. Dieses Konzept wird auch Systemmedizin oder Strukturmedizin genannt und könnte die Zukunft der personalisierten Behandlung prägen.

Ein weiteres wichtiges Thema war das Case Management. Darunter versteht man eine individuelle Begleitung und Koordination für Patientinnen und Patienten, die ihnen hilft, sich im oft schwer durchschaubaren Gesundheitssystem zurechtzufinden. Gerade Menschen mit Seltenen Erkrankungen haben viele Anlaufstellen – von Fachärzten über Kliniken bis hin zu Hilfsmittelversorgern – und brauchen jemanden, der die Fäden zusammenhält.

Dieses Thema wurde sowohl in einem Vortrag als auch in einer Podiumsdiskussion mit Stefan Schwartze (MdB) beleuchtet.

In seinem Vortrag zeigte Prof. Dr. Stefan Schmidt, dass Case Management – laut Studien – die psychische Gesundheit der Betroffenen verbessert, Krankenhausaufenthalte verringert und die Lebensqualität erhöht. Entscheidend sei, dass diese Betreuung durch eine Case Managerin oder einen Case Manager kontinuierlich erfolgt und nicht etwa aus finanziellen Gründen abgebrochen wird. Case Manager unterstützen bei der Krankheitsbewältigung, im Alltag und in Krisensituationen – besonders dann, wenn eine komplexe Symptomatik auf unser ebenso komplexes Gesundheitssystem trifft.

In der Podiumsdiskussion wurde außerdem der Antragsdschungel etwa bei Hilfsmitteln kritisiert. Gerade bei Seltenen Erkrankungen fehlen oft klare Regelungen – hier sind Case Manager eine unverzichtbare Hilfe. Diskutiert wurde auch, dass unterschiedliche Krankheitsbilder verschieden lange Case-Management-Phasen erfordern: manchmal reicht die Begleitung über ein Jahr, etwa zur Unterstützung der Familie, manchmal ist eine Betreuung aber auch bis ins Erwachsenenalter sinnvoll.

Schließlich kam die Frage auf, ob Case Manager künftig eine eigene Berufsgruppe im Gesundheitssystem darstellen sollten. Angesichts des Fachkräftemangels wurde eher vorgeschlagen, diese Tätigkeit an bereits vorhandene medizinische oder pflegerische Berufe anzudocken. Für Menschen, die den Belastungen klassischer Gesundheitsberufe nicht mehr standhalten, könnte die Rolle eines Case Managers eine Alternative sein – ein Weg, dem helfenden Beruf treu zu bleiben, ohne selbst am Limit zu arbeiten. Besonders für Betroffene ohne Diagnose könnte dies von großem Nutzen sein.

Begegnungen am Rande

Besonders wertvoll war auch der Austausch jenseits der offiziellen Programmpunkte. So saßen wir beim Mittagessen mit zwei jungen Kinderärzten am Tisch. Auf die Frage, warum sie sich für Seltene Erkrankungen engagieren, nannten sie zwei Gründe: Zum einen die medizinische Vielfalt, die dieses Feld fachlich spannend macht. Zum anderen der detektivische Reiz, wenn es darum geht, seltene Diagnosen zu stellen.

Fazit

Die NAKSE 2025 hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig es ist, alle Stimmen – von Betroffenen bis Forschenden – an einen Tisch zu bringen. Ich freue mich daher sehr auf die nächste NAKSE, die am 16. und 17. September 2027 erneut in Berlin stattfinden wird.

Danksagung

Wir danken Anna Spindelndreier (Fotografin) und der ACHSE e.V. für freundliche Genehmigung die Fotos aus diesem Beitrag bei uns publizieren zu dürfen.