Der zweite Konferenztag stand im Zeichen der Arzneimittelentwicklung. Besonders spannend war der Vortrag von Prof. Dr. Harald Schmidt (Universität Maastricht) über die Chancen des Drug Repurposing, also die Weiterentwicklung zugelassener Medikamente zur Behandlung anderer Erkrankungen.
Er erklärte, dass ein bereits zugelassener Wirkstoff im Schnitt an 32 weitere Proteine bindet, die nichts mit seinem ursprünglichen Wirkmechanismus zu tun haben. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten: bekannte Medikamente könnten in neuen Kombinationen eingesetzt werden, wobei der Vorteil ist, dass Nebenwirkungen bereits bekannt sind. Auf diese Weise ließe sich die sonst 12- bis 15-jährige Entwicklung eines neuen Wirkstoffs erheblich verkürzen.
Besonders bemerkenswert: Es wird geschätzt, dass es nur etwa 2000 verschiedene Bindungstaschen an Proteinen gibt. Damit ist auch das Potenzial an möglichen neuen Wirkstoffen auf rund 2000 begrenzt – ein Hinweis darauf, dass intelligente Nutzung bereits bekannter Medikamente der Schlüssel sein könnte.
Doch Schmidt ging noch weiter: Krankheiten müssten im Gesamtzusammenhang des Körpers betrachtet werden. Oft greifen mehrere Mechanismen ineinander, und mehrere Organe sind betroffen. Statt wie bisher üblich nur eine Erkrankung oder ein Organ in den Blick zu nehmen, müsse die Medizin lernen, komplexe Krankheitsmechanismen auf molekularer Ebene in den Zellen zu verstehen.
Ein innovativer Ansatz ist, die Zelle in zehn Module zu unterteilen und deren Protein-Interaktionen systematisch in Datenbanken zu erfassen. So ließen sich Krankheiten und ihre Varianten völlig neu verstehen. Auf dieser Basis könnten maßgeschneiderte Medikamentencocktails entwickelt werden – mit niedrigeren Dosierungen, weniger Nebenwirkungen und einer gezielteren Wirkung. Gerade bei Erkrankungen, an denen mehrere Proteine beteiligt sind, sei ein Kombinationsansatz effektiver als ein einzelner Wirkstoff.
Schmidt bezeichnete dies als Paradigmenwechsel in der Medizin. Hierfür seien Disziplinen wie Bioinformatik und Künstliche Intelligenz unverzichtbar. Dieses Konzept wird auch Systemmedizin oder Strukturmedizin genannt und könnte die Zukunft der personalisierten Behandlung prägen.
Ein weiteres wichtiges Thema war das Case Management. Darunter versteht man eine individuelle Begleitung und Koordination für Patientinnen und Patienten, die ihnen hilft, sich im oft schwer durchschaubaren Gesundheitssystem zurechtzufinden. Gerade Menschen mit Seltenen Erkrankungen haben viele Anlaufstellen – von Fachärzten über Kliniken bis hin zu Hilfsmittelversorgern – und brauchen jemanden, der die Fäden zusammenhält.
Dieses Thema wurde sowohl in einem Vortrag als auch in einer Podiumsdiskussion mit Stefan Schwartze (MdB) beleuchtet.
In seinem Vortrag zeigte Prof. Dr. Stefan Schmidt, dass Case Management – laut Studien – die psychische Gesundheit der Betroffenen verbessert, Krankenhausaufenthalte verringert und die Lebensqualität erhöht. Entscheidend sei, dass diese Betreuung durch eine Case Managerin oder einen Case Manager kontinuierlich erfolgt und nicht etwa aus finanziellen Gründen abgebrochen wird. Case Manager unterstützen bei der Krankheitsbewältigung, im Alltag und in Krisensituationen – besonders dann, wenn eine komplexe Symptomatik auf unser ebenso komplexes Gesundheitssystem trifft.
In der Podiumsdiskussion wurde außerdem der Antragsdschungel etwa bei Hilfsmitteln kritisiert. Gerade bei Seltenen Erkrankungen fehlen oft klare Regelungen – hier sind Case Manager eine unverzichtbare Hilfe. Diskutiert wurde auch, dass unterschiedliche Krankheitsbilder verschieden lange Case-Management-Phasen erfordern: manchmal reicht die Begleitung über ein Jahr, etwa zur Unterstützung der Familie, manchmal ist eine Betreuung aber auch bis ins Erwachsenenalter sinnvoll.
Schließlich kam die Frage auf, ob Case Manager künftig eine eigene Berufsgruppe im Gesundheitssystem darstellen sollten. Angesichts des Fachkräftemangels wurde eher vorgeschlagen, diese Tätigkeit an bereits vorhandene medizinische oder pflegerische Berufe anzudocken. Für Menschen, die den Belastungen klassischer Gesundheitsberufe nicht mehr standhalten, könnte die Rolle eines Case Managers eine Alternative sein – ein Weg, dem helfenden Beruf treu zu bleiben, ohne selbst am Limit zu arbeiten. Besonders für Betroffene ohne Diagnose könnte dies von großem Nutzen sein.